Chemie und Geschichte

Prof. Wolfgang Grünert

(Version vom 03.06.2000)


Sehr geehrte Damen und Herren, werte ehemalige und heutige Genossinnen und Genossen, liebe Freunde!

Dieser Beitrag steht im Zeichen der Interdisziplinarität, denn interdisziplinäres Agieren wird in unserem modernen Leben immer mehr zum Unterpfand erfolgreichen Handelns. So allgemein gesagt, ist das schon fast eine Binsenweisheit, denn Beispiele für die Richtigkeit dieses Satzes gibt es allenthalben. Wird beispielsweise irgendwo ein großer Bau errichtet, sieht man ja die Vertreter der verschiedensten Disziplinen ganz offen miteinander kooperieren. Doch auch die Auftragsvergabe geschieht heute nicht selten interdisziplinär, allerdings dann nicht offen, nämlich wenn die trägen Prozesse des Verwaltungs- und Genehmigungswesens durch den wohltuenden Einfluß des Finanzwesens flüssiger und zielführender gestaltet werden. Mancher von uns wird sich vielleicht daran erinnern, daß auch in unserem früheren Leben interdisziplinäre Verflechtungen stark gefördert worden sind, z.B. in Form der marxistisch-leninistischen Durchdringung der Naturwissenschaften.

Hier muß jedoch klar gesagt werden, daß solche interdisziplinäre Verknüpfung nicht einseitig bleiben darf. Vielleicht wäre ja der Verlauf der Geschichte ein anderer gewesen, wenn seinerzeit nicht nur der Marxismus-Leninismus die Chemie, sondern auch die Chemie den Marxismus-Leninismus durchdrungen hätte. Aber nicht das ist heute mein Thema. Ich will mich jetzt stattdessen mit einer anderen Wechselbeziehung beschäftigen, nämlich mit der zwischen Chemie und Geschichte.

Auch dieses Verhältnis ist leider über lange Jahre hinweg völlig einseitig geprägt gewesen. "Geschichte der Chemie" - das ist natürlich eine altbekannte Sache, und in jeder halbwegs anständigen Einführungsvorlesung für Chemiestudenten wird natürlich über die Alchimisten erzählt, und über die großen Gestalten der Chemie, von Laviosier bis Liebig, von Carl Schorlemmer bis Karl Marx. Ich habe aber noch keinen Chemieprofessor gesehen, der in seinem historischen Überblick diesen Namen (Helmut Kohl) an die Tafel geschrieben hätte, obwohl doch gerade ihm die Umkehr in der Beziehung zwischen Chemie und Geschichte zu danken ist, nämlich die Erkenntnis, daß historische Prozesse chemischer Natur sind und mit den Denkkategorien und Methoden der Chemiker vorteilhaft erfaßt und gelenkt werden können. Vielleicht liegt das daran, daß seine Hauptreaktion, die Germanische Schnellkupplung von 19901 so widersprüchlich verlaufen ist, daß unter den historischen Chemikern heute einzig das Faktum anerkannt ist, daß sie stattgefunden hat. Reaktionsmechanismus, Nebenreaktionen und eventuelle Folgereaktionen sind weitestgehend umstritten, ebenso der Zustand des Systems nach erfolgter Kupplung.

In diesem noch jungen Stadium der historischen Chemie will ich nun versuchen, die wichtigsten Aspekte der Kohl'schen Schnellkupplung vor Ihnen darzulegen, bevor sie demnächst in leicht modifizierter Form auf halb Europa angewendet wird. Zunächst eine phänomenologische Beschreibung der Vorgänge.

Bild 1

Deutschland war vor Auslösung der Kupplungsreaktion ein zweiphasiges System (s. Bild!), wobei die Phasen durch eine semipermeable Mauermembran voneinander teilisoliert waren. Die den geringeren Teil der Reaktionsmasse einnehmende S-Phase war durch Zufuhr erheblicher Mengen von Frustenergie - die teilweise von außen übertragen, größtenteils aber bei inneren Reaktionen freigesetzt worden war - in einen metastabilen Zustand übergegangen. Die größere, nach ihrer freiheitlich-demokratischen Strukturierung so benannten FDG-Phase befand sich in dem ihr so typischen stabilen spectator state. Bei genauerer Betrachtung war die Sperrwirkung der Mauermembran auch für Moleküle der S-Phase zu jeder Zeit auch für Moleküle der S-Phase zu jener Zeit nicht mehr perfekt. Es gab Durchlaßmechanismen, die jedoch nur auf Moleküle mit bestimmten, wohl überprüften funktionellen Gruppen ansprachen.

Bild 2

Es kam nun hier in der FDG-Phase zu einer signifikanten weiteren Aktivierung, wodurch die S-Phase unter Ablauf heftiger Trotzreaktionen einen Übergangszustand erreichte, während die FDG-Phase in ihrem spectator state verharrte. Die innere Energie der S-Phase war nun jedoch ausreichend, die Sperrwirkung der Mauermembran zu überwinden, worauf es sofort zu heftigen Stoffaustauschprozessen zwischen den beiden Phasen kam, die jedoch zunächst flüchtiger Natur waren und die Identität der Phasen nur untergründig berührten. Allerdings veränderten sie die Reaktivität der S-Phase doch erheblich: Unter deutliche Senkung des Veränderungspotenzials offenbarte sich immer stärker eine FDG-philie1 des S-Mediums, das nun in den Ausgangszustand der Kohl'schen Schnellkupplung überging.

Ich will nicht verhehlen, daß der Charakter dieses Prozesses von der Kohl'schen Schule ganz anders gesehen wird - man interpretiert ihn dort als weitere Steigerung im Potenzial des Systems. Für mich zeigt sich hier der im folgenden verhängnisvoll mangelhafte chemische Sachverstand dieser Schule, denn eine Reaktion kann doch natürlich nie aus einem Übergangszustand heraus gestartet werden. Und daß auf unsren Straßen vier Wochen nach der Maueröffnung "Helmut, Helmut!" gerufen wurde, war vielleicht die Höhe, aber sicher nicht die Spitze.

Bild 3

Die Grundidee der Kohl'schen Schnellkupplung bestand nun darin, durch Injektion des homogenen DM-Katalysators in die S-Phase dort Reaktionen zu beschleunigen, die FDG-phobe Moleküle neutralisieren, die allgemeine FDG-philie des Mediums stärken und die Mauermembran völlig auflösen sollten. Ziel war, beide Phasen komplett miteinander mischbar zu machen, so daß sie über einen gemeinsam zu durchlaufenden Anstrengungszustand den Endzustand der Kupplungsreaktion erreichen sollten - die "blühenden Landschaften".

Bild 4

Wie die Reaktion tatsächlich verlief, ist etwas weiter unten zu sehen. Aus Gründen, die ich noch diskutieren werden, fanden die erwünschten Reaktionen (mit Ausnahme der Mauerauflösung) trotz exzessiver Katalysatorinjektion nicht im erforderlichem Maße statt. Die Mischbarkeit der beiden Phasen wurde nicht erreicht. Aufgrund gewisser Verarmung an DM-Reagens wurde die FDG-Phase rasch wieder desaktiviert und zog die S-Phase nach. Am Ende der Kupplungsreaktion stand anstelle der "blühenden Landschaften" ein Wahlsieg der CDU, was natürlich vom nationalen Standpunkt gesehen ein fast ebenso anerkennenswertes Ergebnis war.

Bild 5

Worin bestehen nun die Gründe für den unerwarteten Verlauf der Kupplungsreaktion?

Phänomenologisch gesehen zweifellos darin, daß sich der DM-Katalysator nur in ungenügendem Maße in der S-Phase halten konnte. Eine signifikante Akkumulation, die schließlich zu reaktiven Rückwirkungen auf die FDG-Phase hätte führen und somit eine Homogenisierung des Systems hätte begünstigen können, war nie im Bereich des Möglichen.

Dieser Rückstrom des DM-Katalysators in die FGD-Phase wird von den meisten Experten auf einen Effekt zurückgeführt, der von der Kohlschule offenbar übersehen wurde und der mit den durchaus intendierten phasentransferkatalytischen Wirkungen verbunden ist. Bei der Phasentransferkatalyse (s. Schema) wechselt ein Phasentransferagens, in unserem Falle oft vergröbernd als "Wessi" bezeichnet, aus der einen Phase in die andere. Dieser Reaktand reagiert nun mit einem Bestandteil der zweiten Phase - also der S-Phase - unter Vermittlung des DM-Katalysator ab. Das Phasentransferagens kehrt dann in die Mutterphase zurück, entweder unbeladen oder mit einem für die Reaktion unbedeutenden Molekül koordiniert. In unserem Fall nun kehrte das Phasentransferagens in den seltensten Fällen unbeladen zurück, sondern war meistens beladen, und häufig stark überladen ausgerechnet mit dem, was die Kupplungsreaktion hätte bewirken sollen, nämlich mit dem DM-Katalysator. Die scheinbare Unlöslichkeit des DM-Katalysators im S-Medium ist demnach auf sehr effiziente Rücktransportmechanismen zurückzuführen.

Demgegenüber scheint mir ein anderer, insbesodere von der Kohl-Schule herangezogener Interpretationsansatz, der auch als "Rote-Socken-Theorie" bekannt geworden ist, weniger plausibel. Danach hätten sich FDG-phobe Restbestandteile der S-Phase, insbesondere das gefürchtete PDS-Reagens, als Katalysatorgift ausgewirkt. Nun können Vergiftungserscheinungen verschiedenster Art in diesem sehr komplexen Reaktionssystem zweifellos festgestellt werden, sie sind jedoch nicht ursächlich für den effizienten Katalysatorrückfluß, der den unvorhergesehenen Reaktionsverlauf bewirkt hat. Jedenfalls ist eine signifikante Beteiligung von PDS-Molekülen am DM-Rücktransport in die FDG-Phase nie ernsthaft behauptet worden, wenn auch dem PDS-Reagens hinsichtlich der Phasenvermischung eine positive Wirkung kaum zugesprochen werden kann.

Ich möchte abschließend auf einen Umstand hinweisen, dessen Mißachtung bei der Konzipierung der Kohl'schen Schnellkupplung den unerwarteten Verlauf vielleicht nicht verursacht, zweifellos aber stark begünstigt hat: Das ist die problematische Rolle der Annihilationsreaktionen! Annihilationsreaktionen sind in der traditionellen Chemie natürlich unbekannt - dort werden bekanntlich nur Moleküle auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Es ist nun verschiedentlich und rechtzeitig darauf hingewiesen worden, daß eine eher traditionell-chemische Führung der Kupplungsreaktion der Vermittlung und Mischbarkeit der beiden Phasen dienlich gewesen wäre - selbst, wenn Annihilationsreaktionen in der historischen Chemie nie völlig zu vermeiden sind. Der traditionell-chemische Verlauf unter Verknüpfung von Molekülbruchstücken aus der S- und der FDG-Phase hätte natürlich auch letztere stark verändert, und das was im Kohl'schen Reaktionskonzept nicht vorgesehen. Und so wurde annihiliert: Arbeitsplätze, wissenschaftliche Einrichtungen, soziale Standards zugunsten der Frau, Promille-Grenzen, Spezialschulen für begabte Schüler, schulische Standards des naturwissenschaftlichen Unterrichts, usw., usf. Das Sandmännchen der S-Phase konnte der Annihilation nur knapp entgehen, und das grüne Ampelmännchen ist noch heute von diesem Schicksal bedroht.

Meine Damen und Herren, ich hoffe, Ihnen heute die Prinzipien und aktuelle Kontroversen der historischen Chemie in einer Weise dargelegt zu haben, die Ihr Interesse für dieses Fachgebiet geweckt hat. Neue Kupplungsexperimente in Europa stehen unzweifelhaft bevor, und es bleibt zu hoffen, daß sie unter Rückgriff auf den gesamten Sachverstand dieses sich stürmisch entwickelnden Zweigs der Chemie zu einem besseren Ende gebracht werden können als der erste.


Letzte Änderung war am 03. April 2002
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